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Ein Regime verschleiert die Ausradierung der indigenen armenischen Kultur

18 փետրվարի, 2019

Ein Regime verschleiert die Ausradierung der indigenen armenischen Kultur

Ein umfassender forensischer Bericht deckt die jüngste Zerstörung von 89 mittelalterlichen Kirchen, 5.840 filigranen Kreuzsteinen und 22.000 Grabsteinen auf

Simon Maghakyan,         Sarah Pickmann               18. Februar 2019              erschienen in „Hyperallergic“

Von links: Vasif Talibov, Heydar Aliyev und Ilham Aliyev 1999 bei der Enthüllung einer Statue in Nachitschewan zu Ehren von Dede Korkut einem mythischen Autor mittelalterlicher türkischer Erzählungen. Die Statue war nach Maßgabe eines Dekrets von Heydar Aliyev vom 20. April 1997 errichtet worden, um das „alte und kulturell reiche“ Buch des Dede Korkut anzupreisen. Die gezielte Zerstörung der armenischen Vergangenheit in Nachitschewan begann den Berichten zufolge kurz nach der Unterzeichnung dieses Dekrets.

 

Als im April 2011 ein US-Botschafter nach Aserbaidschan im Südwesten der früheren UdSSR einreiste, wurde ihm der Zugang zum Grenzgebiet am Flussufer, das diese südkaukasische Nation vom Iran trennt, verwehrt. Es war aber kein äußerer Feind, der die Visite stoppte. Stattdessen bestanden seine aserbaidschanischen Gastgeber darauf, die vorgesehene Investigation des Gesandten in der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan  (Offiziell: Autonome Republik Naxçıvan) könne nicht fortgesetzt werden, da sie durch eine falsche Berichterstattung motiviert sei. Der Botschafter hatte die Absicht, die berichtete Zerstörung tausender mittelalterlicher christlich-armenischer Kunstobjekte in der Nekropole von Dschulfa in Nachitschewan zu überprüfen. Dieser Friedhof war einst dafür berühmt, die weltweit umfangreichste Sammlung von Chatschkaren zu beherbergen - charakteristische armenische Kreuzsteine. Allerdings war die berichtete Zerstörung nach Angaben der aserbaidschanischen Behörden eine Farce. Die Stätte wäre nicht angetastet worden, da sie von vornherein nicht existierte. Trotz reichlicher gegenteiliger Bezeugungen beharrt Aserbaidschan darauf, dass Nachitschewan niemals armenisch gewesen sei.

 

Einige von Tausenden von Chatschkaren in Dschulfa vor ihrer Zerstörung, von denen die meisten im 16. Jahrhundert errichtet wurden (© Archiv Argam Ayvazyan, 1970-1981)

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Miteinander inkompatible Narrativen über historisches Richtig und Falsch haben den ungelösten armenisch-aserbaidschanischen Konflikt lange Zeit verkompliziert. Nach dem Zusammenbruch des Russischen Reiches am Ende des Ersten Weltkrieges traten Armenien und Aserbaidschan als kurzlebige unabhängige Staaten hervor.  Nachdem Jahrhunderte imperialer Kriegsführung auf dem strategisch wichtigen armenischen Hochland die ethnische Zusammensetzung der Region diversifizierten, konfrontierten überlappende territoriale Forderungen die neu unabhängigen Länder Armenien und Aserbaidschan. Kurz nachdem die Bolschewiki die Macht in der Region übernahmen, formten sie die beiden strittigen Regionen Berg-Karabach und Nachitschewan zu Autonomiegebieten innerhalb Aserbaidschans. Während Berg-Karabach seine armenische Bevölkerungsmehrheit beibehielt, schmolzen die alteingesessenen armenischen Gemeinden von Nachitschewan im Laufe des 20. Jahrhunderts dahin.  1988 strebte Berg-Karabach nach der Vereinigung mit Sowjet-Armenien. Es war notwendig geworden, Aserbaidschan zu verlassen, machte die armenische Bevölkerungsmehrheit von Berg-Karabach geltend, um die einheimische christliche Vergangenheit der Region zu bewahren und dem Schicksal der verschwundenen Armenier von Nachitschewan zu entgehen.  Mitten in der Perestroika und Glasnost  des Sowjetführers Michail Gorbatschow wurde Berg-Karabach zu einem Kriegsgebiet.

 

Die Landkarte von Nachitschewan mit angrenzenden Gebieten (mit freundlicher Genehmigung von Djulfa Virtual Memorial and Museum  I  Djulfa.com)

 

Seit dem Waffenstillstand zwischen den vor Kurzem unabhängig gewordenen Ländern Armenien, Aserbaidschan und Berg-Karabach 1994 schießen die gegenseitigen Anschuldigungen über Vandalismus und Revisionismus in die Höhe. Der aserbaidschanische Präsident protestiert, dass „alle unsere Moscheen in den besetzten aserbaidschanischen Gebieten zerstört worden sind.“ Ein Besucher im von Armenien unterstützten Berg-Karabach (im Armenischen auch Artsakh genannt) würde Anderes beobachten:  Es existieren Moscheen, wenngleich sie ungenutzt  sind - einschließlich einer in der verwüsteten Geisterstadt Agdam in der „Pufferzone“.

Gleichzeitig würde ein Tourist in Nachitschewan, welches kein Kriegsgebiet war, weder auf  armenisches Kulturerbe noch auf öffentliche Anerkennung der weitreichenden armenischen Wurzeln in der Region treffen - einschließlich der mittelalterlichen globalen Handelsnetzwerke, die von den erfindungsreichen Kaufleuten aus Dschulfa ins Leben gerufen wurden. Zu den Hinterlassenschaften dieser Kaufleute gehören - wie Sebouh Aslanian es in „From the Indian Ocean to the Mediterranean“ dokumentierte - die legendären Schätze der „Adventure Prize“, welche 1698 vom berühmten gesetzlosen Kapitän Kidd erbeutet wurden. Darüber hinaus wurden laut Ina McCabe’s „Orientalism in Early Modern France“  viele der ersten Kaffeehäuser in Europa im siebzehnten Jahrhundert von diesen Kaufleuten aus Dschulfa gegründet - was, wie Adam Gopnik in der letzten 2018er Ausgabe des „The New Yorker“ schreibt, dazu verhalf, den Grundstein der liberalen Aufklärung zu legen.“ 

Abgesehen von der unrechtmäßig angeeigneten armenischen Folklore, die die Region mit dem biblischen Noah verbindet, dessen Arche auf dem nahe gelegenen Berg Ararat gelandet sein soll, wurde die armenische Vergangenheit Nachitschewans praktisch ausgelöscht.

 

Eine Panorama-Aufnahme von Agulis, ca. in den frühen 1900er Jahren (mit freundlicher Genehmigung des Historischen Museums von Armenien)

 

Fotografische Erinnerungen

Im Unterschied zu den selbst inszenierten kulturellen Zerstörungen des IS ist über die verdeckte Kampagne des unabhängigen Aserbaidschans zur Umgestaltung des historischen Landschaftsbildes von Nachitschewan zwischen 1997 und 2006 außerhalb der Region wenig bekannt. Der in Armenien lebende Forscher Argam Ayvazyan  sah die systematische Zerstörung jedoch bereits vor Jahrzehnten voraus.

 

Argam Ayvazyan neben einem Chatschkar aus dem 14. Jahrhundert in Nors (heute Nursu) in der Nähe seines Geburtsortes (© Archiv Argam Ayvazyan, 1970-1981)

 

Ayvazyan befürchtete, dass das armenische materielle Erbe von Nachitschewan dem Untergang geweiht war, wie es bereits die alteingesessenen Armenier getroffen hatte. Nach den Verträgen von Kars und Moskau 1921, bei denen türkische Unterhändler das umstrittene Gebiet  als Exklave unter der Oberhoheit von Sowjet-Aserbaidschan sicherstellten, ging die Zahl der armenischen Bevölkerung in der Region zurück. Ayvazyan war gerade siebzehn Jahre alt, als er damit begann, das kulturelle Erbe seiner Heimat Nachitschewan zu fotografieren. Von 1964 bis 1987 sammelte er genug Materialien, um am Ende 200 Artikel und über 40 Bücher zu veröffentlichen. Seine verdeckten und gefährlichen fotografischen Missionen wurden von ihm selbst finanziert, während er sich auf die Unterstützung seiner engsten Begleiterin verlassen konnte: „Meine Frau, eine Lehrerin, war meine wichtigste Stütze“, erinnert sich Ayvazyan. „Sie beschwerte sich niemals über meine lange Abwesenheit, die finanziellen Schwierigkeiten oder darüber, dass sie allein die Fürsorgepflicht für unsere Kinder hatte.“ Als die Berliner Mauer fiel, hatte Ayvazyan neben anderen armenischen Denkmälern 89 armenische Kirchen, 5.840 filigrane Kreuzsteine und 22.000 Grabsteine dokumentiert. Seine Zuneigung für die Kunstwerke beschränkte sich nicht nur auf christliche Stätten. Ayvazyan untersuchte auch die sieben islamischen Mausoleen und 27 Moscheen der Region.

Bereits sehr früh lernte Ayvazyan, dass die Untersuchung umstrittener Stätten eine vorsichtige Vorgehensweise erfordert. 1965 bekam er, nachdem er eine Kirche in der Nähe seines Geburtsortes fotografiert hatte, eine Warnung von einem KGB-Chef, der den jugendlichen Missetäter zum Tee einlud. In einem kürzlich erfolgten Interview mit den Autoren erinnerte sich Ayvazyan, dass Genosse Aliyev ihm auf Russisch sagte: „Mach nie wieder so etwas. Es gibt hier keine armenischen oder sonstigen Dinge.“ Vier Jahre später wurde Genosse Aliyev zum Führer von Sowjet-Aserbaidschan und 1993 zum Präsidenten des unabhängigen Aserbaidschans.  „Wer konnte wissen“, berichtet Ayvazyan  „Hyperallergic“, „dass der Mann, der mir sagte, ich solle keine Kirchen fotografieren, dreißig Jahre später ihre Zerstörung in Gang setzen würde.“ Ayvazyan wurde zunehmend vorsichtiger. Als es z.B. im September 1972 darum ging, das Innere der Hauptkathedrale Nachitschewans in der Stadt Agulis zu untersuchen, bat er Marus, eine ältere lokale Matriarchin, ihn zu einem möglicherweise feindseligen Treffen zu begleiten. Als letzte armenische Bewohnerin eines nahegelegenen Dorfes wusste sie, wie behutsam man mit der aserbaidschanischen Gemeinschaft in Agulis sprechen sollte. Dort überzeugte Marus die Einheimischen, die versiegelte St.-Thomas-Kathedrale zu öffnen, die der Überlieferung nach vom Apostel Bartholomäus als Kapelle gegründet worden war. Marus gab vor, dass Ayvazyan an einer Krankheit litt, von der er nach seiner Ansicht nur geheilt werden könne, wenn er eine Weile allein im Inneren der Kathedrale verbringen würde.

 

Surb Karapet (Kirche zum Heiligen Vorboten) in Abrakunis, einem großen Zentrum mittelalterlicher armenischer Theologie (© Archiv Argam Ayvazyan, 1970-1981)

 

Die eingeebnete Stelle, an der Surb Karapet einst stand, im August 2015 in Abrakunis (heute Əbrəqunus) (mit freundlicher Genehmigung von Steven Sim)

 

Eine 2013 eröffnete Moschee an der Stelle der mittelalterlichen Surb Karapet in Abrakunis (heute Əbrəqunus) (mit freundlicher Genehmigung von Djulfa Virtual Memorial and Museum  I  Djulfa.com)

 

Post-kommunistisches Manifest

Im August 2005 nahmen die Behörden der Region einen anderen durchreisenden Wissenschaftler fest. Der schottische Forscher Steven Sim war in das post-sowjetische Nachitschewan gereist, um den Zustand der zuvor von Ayvazyan fotografierten Kirchen zu untersuchen. Anstelle von mittelalterlichen armenischen Kirchen fand Sim leere vegetationslose Flächen vor. Die Polizisten, die ihn befragten, hatten eine schnelle Antwort parat, warum es für Sim nichts zu untersuchen gab: „Armenier kamen hierher und machten Fotos… danach gingen sie in ihr Land zurück und fügten Fotos von Kirchen in Armenien hinzu… Es gab keine Armenier, die jemals hier gelebt haben - wie könnte es hier dann Kirchen geben?“, gab man ihm zur Antwort. Am Ende des Verhörs gab man Sim bis Mitternacht Zeit, um Nachitschewan mitsamt seiner Aufnahmen von leergeräumten Flächen zu verlassen. Zumindest einige der umgestürzten Grabsteine von Dschulfa, die er während einer Zugfahrt vom Fenster aus gesehen hatte, waren jedoch noch da. Aufgrund ihrer prominenten Lage an einer internationalen Grenze hatte Dschulfa - in verschiedenen Variationen geschrieben und vom armenischen Dschugha abgeleitet - überlebt.

 

Surb Hakob (St. Jakob), gegründet im 12. Jahrhundert, die größte Kirche von Shorot (© Archiv Argam Ayvazyan, 1970-1981)

 

Keine Anzeichen von Surb Hakob bzw. den drei angrenzenden Kirchen von Shorot (heute Şurud) im August 2005 (mit freundlicher Genehmigung von Steven Sim)

 

Vier Monate später, im Dezember 2005, alarmierte eine iranische Grenzpatrouille den Prälaten der armenischen Kirche im Norden Irans, dass die ausgedehnte armenische Friedhofsanlage von Dschulfa, die jenseits der Grenze in Aserbaidschan zu sehen ist, einem Übergriff durch das Militär ausgesetzt war. Bischof Nshan Topouzian und sein Fahrer eilten herbei, um über 100 aserbaidschanische Soldaten per Videokamera aufzunehmen, die mit Vorschlaghämmern, Muldenkippern und Kränen gewappnet die verbliebenen 2.000 Kreuzsteine zerstörten. Über 1.000 waren bereits 1998 und 2002 beseitigt worden.

 

Der kürzlich verstorbene armenische Prälat von Nordiran betet mit Tränen in den Augen vor dem Hintergrund des Friedhofs in Dschulfa, als aserbaidschanische Soldaten auf der anderen Seite des Flusses Arax (der natürlichen internationalen Grenze zwischen dem heutigen Aserbaidschan und Iran)  im Dezember 2005 die verbliebenen 2.000 Kreuzsteine zerstören. (mit freundlicher Genehmigung von Djulfa Virtual Memorial and Museum  I  Djulfa.com)

 

Der hilflose Bischof hielt einen tränenreichen Gedenkgottesdienst für die Störung der Totenruhe ab, als die herzzerreißenden Bilder und die kreischenden Geräusche der Zerstörung unablässig über die Grenze kamen. 2006 von der iranischen Seite aufgenommene Fotos zeigten, dass an der Stelle, wo sich der Friedhof befand, ein Schießübungsplatz der aserbaidschanischen Streitkräfte errichtet worden war, um die Existenz des frisch planierten Bodens zu rechtfertigen. Wahrscheinlich aufgrund von drei Faktoren - seiner auffälligen Lage an einer internationalen Grenze, seines Rufs als weltweit größte Sammlung von Chatschkaren und der im Vorfeld von armenischer Seite aus geäußerten Bedenken zu seinem Erhalt - war Dschulfa die letzte große armenische Stätte in Nachitschewan, die zerstört werden sollte. Die Vernichtung von 2005 - 2006  war das „große Finale“ in der Auslöschung der armenischen Vergangenheit in Nachitschewan durch Aserbaidschan.

 

Die Stätte des mittelalterlichen Friedhofs in Dschulfa - aufgenommen im Juli 2006 von der iranischen Seite der Grenze - wurde von den aserbaidschanischen Behörden zeitweilig zu einem Schießübungsplatz umgewandelt, um die frisch planierte Erde in der letzten Phase der Zerstörung des Friedhofs zu begründen. (mit freundlicher Genehmigung von Djulfa Virtual Memorial and Museum  I  Djulfa.com)

 

Seitdem Aserbaidschan internationalen Forschern untersagt, Nachitschewan zu besuchen, setzte die Amerikanische Vereinigung zur Förderung der Wissenschaft (AAAS) bei ihren Pionieruntersuchungen zur Zerstörung der Kultur Fernerkundungstechnologien ein. Ihre raumbezogene Untersuchung von 2010 kam zur Schlussfolgerung, dass die „satellitengestützten Beweise mit den Aussagen von Beobachtern vor Ort übereinstimmten, die von der Zerstörung der armenischen Kunstgegenstände auf dem Friedhof von Dschulfa berichteten.“ Im November 2013 beobachtete einer der Autoren dieses Artikels - getarnt als Wallfahrer zu einer gut erhaltenen Kapelle auf der iranischen Seite der Grenze unterwegs - verwüstete Grasflächen auf der anderen Seite des Flusses in Aserbaidschan. Die atemberaubend verzierten Kreuzsteine auf dem größten mittelalterlichen armenischen Friedhof der Welt existierten nicht mehr. Abgesehen von der Auffälligkeit flacher Felder in einem ansonsten unebenen Gelände sah es so aus, als hätte noch nie ein Mensch diese Landschaft berührt – so wie es sich die aserbaidschanischen Führer wünschten.

 

Satellitenbilder zeigen das komplette Verschwinden des mittelalterlichen armenischen Friedhofs von Dschulfa (auf Armenisch Dschugha) in der Nähe des heutigen aserbaidschanischen Dorfes Gülüstan In der Region Culfa (Julfa) von Aserbaidschan. Die Großaufnahme des südwestlichen Teils des Friedhofs zeigt eindeutig den Umfang in dem das Gelände ausradiert wurde. Oberes Bild aus 2003; unteres Bild aus 2009. (mit freundlicher Genehmigung von American Association for the Advancement of Science / Digital Globe)

 

Dementi aus Baku

„Absolut falsche und verleumderische Informationen … [erfunden von] der armenischen Lobby.“ Das waren die Worte, die der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev - Nachfolger und Sohn des zum Präsidenten gewordenen KGB-Führers Heydar Aliyev - benutzte, um die Berichte über die Zerstörung von Dschulfa in einer Rede im April 2006 zu beschreiben. Jedwede Kritik als „armenische Propaganda“ abzulehnen, ist in Aserbaidschan seit Beginn des Krieges Anfang der 1990er Jahre im Südkaukasus allgemein üblich. Als 1994 ein fragiler armenisch-aserbaidschanischer Waffenstillstand unterzeichnet wurde, hatte dieser Konflikt - der Karabach-Krieg - in der gesamten Region Narben hinterlassen. Er hatte zu Zehntausenden von Toten auf beiden Seiten und zu viel mehr vertriebenen Menschen geführt, von denen die meisten Aserbaidschaner aus den umliegenden Gebieten waren, was das ansonsten isolierte Berg-Karabach als seine existentielle Garantie betrachtet. „Nach seiner Niederlage und den durch die Armenier erlittenen Leiden“, reflektierte Thomas de Waal, der Autor von Black Garden über die Nachkriegsrhetorik Aserbaidschans, einschließlich der Leugnung des Genozids an den Armeniern im 1. Weltkrieg, „wollte [Baku] auch das Recht Aserbaidschans auf die Opferrolle durchsetzen.“ Die Narrative Aserbaidschans beinhaltet hierbei armenische Aggression, ethnische Säuberungen, Massaker in Chodschali, Besatzung und eine von der gutvernetzten armenischen Diaspora verbreitete anti-aserbaidschanische Propaganda.

Allerdings geht der aserbaidschanische Geschichtsrevisionsmus, der die armenische Vergangenheit in Frage stellt, dem blutigen Krieg der 1990er Jahre um Jahrzehnte voraus. Mitte der 1950er Jahre, schreibt Viktor Schnirelmann in seinem russischsprachigen Buch „Krieg der Erinnerungen“[1], haben aserbaidschanische Historiker ein anti-armenisches Programm ins Leben gerufen. Ein derartiger Wandel könnte wahrscheinlich als Reaktion auf das rebellische kulturelle Wiedererwachen in Armenien erfolgt sein, was nach Ansicht des amerikanisch-armenischen Wissenschaftlers Pietro Shakarian zu den ersten Sowjetrepubliken gehörte, die das „Tauwetter“ und die „Entstalinisierung“ durchlebten. Jedes neue Argument des anti-armenischen Revisionismus - schreibt Schnirelmann - „beflügelte die Phantasie der aserbaidschanischen Autoren.“ 1975 z.B. zerstörte ein sowjet-aserbaidschanisches Bauprojekt die alte „Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit“ - die Stätte, an der die Massenverbrennung der armenischen Adligen durch die arabischen Invasoren im Jahre 705 n. Chr. stattfand. Beim Niederreißen spielte der aserbaidschanische Historiker Ziya Bunyadov die Zerstörung herunter. Der Abriss wäre unbedeutend, da die „wahre“ Heilige Dreifaltigkeit - wie Bunyadov auf einmal behauptete - sich außerhalb Aserbaidschans befände. Ein Jahrzehnt später, als die Sowjetunion auseinanderfiel, behaupteten aserbaidschanische Historiker, dass die Kirchen und Kreuzsteine von Nachitschewan nicht das Werk der mittelalterlichen Armenier, sondern der vergangenen „kaukasischen Albaner“ wären, die viele Aserbaidschaner als eigene Vorfahren betrachten, obwohl die geographische Ausdehnung dieses verschwundenen Volkes niemals Nachitschewan umfasste. Nachdem aber 2005-2006 die letzten verbliebenen Spuren des Christentums getilgt wurden, gaben die aserbaidschanischen Behörden die Diskussionen über „kaukasische Albaner“ auf und fingen an, Nachitschewan als einen Grundstein der „alten und mittelalterlichen türkisch-islamischen Kultur“ anzupreisen - ohne jeglichen Bezug auf dessen tiefreichende christliche Vergangenheit.

 

Auflistung der verbliebenen mittelalterlichen armenischen Denkmäler in Nachitschewan in sowjetischer und postsowjetischer Ära (erstellt von den Autoren)

Trotz inbrünstiger Dementis kommt der glaubhafteste Beweis über die Ausradierung des armenischen Erbes in Nachitschewan von der aserbaidschanischen Regierung selbst. Am 6. Dezember 2005, Tage vor der katastrophalen Zerstörung von Dschulfa, erließ der lokale Autokrat von Nachitschewan, Vasif Talibov, ein Verwandter von Präsident Aliyev, das öffentliche Dekret Nr. 5-03/S, in welchem er eine detaillierte Bestandsaufnahme der Monumente von Nachitschewan forderte. Drei Jahre später erfolgte die Zusammenfassung der Untersuchungen in der zweisprachigen englischen und aserbaidschanischen Enzyklopädie der Denkmäler von Nachitschewan - bei der Talibov selbst als Mitherausgeber fungierte. In der 522 Seiten umfassenden „Enzyklopädie“ fehlen 89 mittelalterliche Kirchen, 5.840 filigrane Kreuzsteine und 22.000 Grabsteine, die Ayvazyan akribisch dokumentiert hatte. Es gibt nicht einmal eine Fußnote über die heute nicht mehr existierenden christlich armenischen Gemeinden in der Region - sowohl apostolische als auch katholische. Das Vorwort der offiziellen aserbaidschanischen Publikation offenbart jedoch ausdrücklich die „Armenier“ als Grund für Nr. 5-03/S: „Deshalb wurde der Entschluss vom 6. Dezember gefasst … für jedes einzelne Denkmal wurde ein Ausweis ausgestellt … die Armenier, die uns feindlich gesonnen sind, stellen nicht nur ungerechtfertigte [sic!] territoriale Forderungen an Nachitschewan, sondern auch an unsere historischen Denkmäler, wobei sie falsche [sic!] Informationen an die internationale Gemeinschaft verbreiten. Die durchgeführten Untersuchungen belegen erneut, dass die Region Nachitschewan den aserbaidschanischen Türken gehörte[sic!]…“

Die aserbaidschanische Regierung scheute sich auch nicht davor zurück, längst verschwundene armenische Denkmäler als „alte aserbaidschanische“ Sehenswürdigkeiten neu zu erfinden. 2009 weihten die Behörden von Nachitschewan ein neues islamisches Mausoleum als „restauriertes Grabmal des Propheten Noah aus dem achten Jahrhundert“ auf einem alten armenischen Friedhof ein. Tatsächlich wurde das ursprüngliche sagenumwobene Grab, das wahrscheinlich während der Stalinschen Säuberungen „gegen den religiösen Aberglauben“ gesprengt wurde, von J. Theodore Bent 1896 in „The Contemporary Review“ als ein beliebtes christlich-armenisches Heiligtum beschrieben, obwohl auch andere Beobachter berichteten, dass auch Muslime die Stätte als heilig betrachteten. In ähnlicher Weise wurde 2016 über den Ruinen der Bergfestung Ernjak ein Bauprojekt fertig gestellt, das als „die restaurierte Festung Alinja - das Machu Picchu von Nachitschewan“ angepriesen wurde - ohne Bezugnahme auf deren tiefreichende armenische Vergangenheit. Einschließlich der Folterung, Enthauptung und Kreuzigung des armenischen Königs Sembat des Märtyrers durch den - dem abbasidischen Kalifat unterstehenden - Emir Sajid Yusuf bei der Belagerung der Festung im Jahre 914 - wie es vom zeitgenössischen Katholikos Hovhannes V. aufgezeichnet wurde.

 

Surb Tovma in Agulis (St.-Thomas-Kathedrale), der Überlieferung nach vom Apostel Bartholomäus als Kapelle gegründet (© Archiv Argam Ayvazyan, 1970-1981)

 

Eine 2014 eröffnete Moschee an der Stelle der zerstörten Surb Tovma in Agulis (heute Yuxarı Əylis bzw. Aylis) (mit freundlicher Genehmigung von Djulfa Virtual Memorial and Museum  I  Djulfa.com)

 

Heute ist die einzige „überlebende“ christliche Stätte in Nachitschewan das, was die aserbaidschanischen Behörden als „Ordubad-Tempel“ bezeichnen, die frühere russische St.-Alexander-Newski-Kathedrale, die laut Argam Ayvazyan 1862 von der Familie Araskhanian, einer prominenten armenischen Großfamilie aus Agulis, erbaut wurde. 2016 wurde die ehemals russische Kirche nach einer „Renovierung“, die die ursprüngliche Struktur erheblich veränderte, von der aserbaidschanischen Behörden als ein „Tempel-Museum“ wiedereröffnet, um in ihrem Innern Fotos von nahe gelegenen islamischen Denkmälern zu zeigen - begleitet vom Lob der staatlichen Medien, die die Konversion als ein Zeugnis von „Multikulturalität und Toleranz“ feierten. Die armenischen Maurer der St. Newski wurden von den aserbeidschanischen Behörden nicht erwähnt, da nach ihrer favorisierten Geschichtsauffassung die Armenier in Nachitschewan überhaupt nicht existierten.

 

Das teure Gewissen

Es sind nicht nur Armenier, die unter den staatlich sanktionierten Zerstörungen in Nachitschewan gelitten haben. Es ist auch für die Aserbaidschaner gefährlich, die armenischen Wurzeln von Nachitschewan hervorzuheben, ganz gleich wie prominent sie sind. 2013 war Präsident Aliyev wütend auf den überaus produktiven aserbaidschanischen „Volksschriftsteller“ Akram Aylisli, da er einen Roman über das Leiden der Armenier und deren Alteingesessenheit veröffentlichte. Der Protagonist von „Steinträume“ im ausgehenden Sowjetzeitalter ist ein aserbaidschanischer Intellektueller aus Agulis, heute Aylis genannt, einer alten armenischen Stadt in Nachitschewan, deren mondäne armenische Kaufleute sie in ein „kleines Paris“ verwandelten, lange bevor die osmanischen Türken - unterstützt von aserbaidschanischen Mitläufern - 1919 ihre armenische Gemeinde niedermetzelten. Der Protagonist des Romans setzt sich ständig mit Erinnerungen an diesen Ort auseinander, einschließlich der acht von zwölf mittelalterlichen Kirchen, die bis in die 1990er Jahre überlebt hatten - selbst nachdem er ins Koma gefallen war, als er versuchte, einem Opfer der antiarmenischen  Pogrome in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku zu helfen. Verärgert über das, was er eine „vorsätzliche Verzerrung“ der Geschichte in „Steinträume“ nannte, entzog Präsident Aliyev Aylisli die Rente und den Ehrentitel „Volksschriftsteller“. Aylislis Schriften wurden aus den Lehrplänen der Schulen verbannt, seine Bücher öffentlich verbrannt und den Mitgliedern seiner Familie die Arbeit gekündigt. Eine Gruppe von internationalen Intellektuellen nominierte Aylisli später für den Friedensnobelpreis.

Aylisli, der seit der Publikation von „Steinträume“ de facto unter Hausarrest steht, protestierte jahrelang gegen die Zerstörung der armenischen Vergangenheit Nachitschewans durch Aserbaidschan. Berichten zufolge wurde Aylisli Zeuge der Zerstörung der Kirchen in Agulis und legte aus Protest gegen die Zerstörungen Ende 2005 in Dschulfa sein Mandat als Mitglied des aserbaidschanischen Parlaments nieder. Es wird oft gesagt, dass Aylisli beschlossen hätte, „Steinträume“  zu schreiben, nachdem er sich ein Video über die Zerstörung von Dschulfa angeschaut hatte. Ein vor kurzem aufgelegtes Buch offenbart jedoch, dass Aylisli bereits ein Jahrzehnt zuvor erstmals Protest gegen die Zerstörungen in Nachitschewan eingelegt hatte. In einem vor kurzem verfassten Aufsatz als Teil von „Farewell, Aylis: A Non-Traditional Novel in Three Works“ (Englische Übersetzung von Katherine E. Young, 2018) schreibt Aylisli: „Ich habe [Vasif Talibov] immer klar gesagt, dass meiner Meinung nach die massenhafte Zerstörung der armenischen Denkmäler in Nachitschewan eine große Schande für unsere Nation ist.“ Der neue Aufsatz von Aylisli nimmt auch Bezug auf ein Telegramm, das er im Jahre 1997 an den aserbaidschanischen Präsidenten richtete – in dem Jahr „als der ungeheuerliche Vandalismus gerade begonnen hatte“. Aylisli hatte den Inhalt dieses Telegramms 2011 in einem privat herausgegebenen russischsprachigen  Buch mit gerade fünfzig Exemplaren veröffentlicht. Der Inhalt des Telegramms lautet:

An den Präsidenten der Republik Aserbaidschan - Herrn Heydar Aliyev

Verehrter Herr Präsident,

vor kurzem habe ich erfahren, dass in meinem Heimatdorf Aylis umfangreiche Arbeiten zur Vernichtung der armenischen Denkmäler und Friedhöfe im Gange sind. Dieser Akt von Vandalismus wird unter Heranziehung der Streitkräfte und durch den Einsatz von Panzerabwehrminen begangen. Ich möchte Ihnen gegenüber meine tiefste Besorgnis zum Ausdruck bringen, dass diese derart sinnlosen Akte von der Weltgemeinschaft als Manifestation von Respektlosigkeit gegenüber religiösen und moralischen Werten wahrgenommen werden und meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, dass Ihrerseits dringende Maßnahmen ergriffen werden, um diesem böswilligen Vandalismus ein Ende zu bereiten.

Hochachtungsvoll

AKRAM AYLISLI

  1. Juni 1997

Nach der Hetzjagd auf den berühmten Schriftsteller durch Ilham Aliyev angesichts der Veröffentlichung von „Steinträume“  interviewte der unabhängige russische Journalist Shura Burtin Akram Aylisli 2013 in Baku. Beeindruckt von Aylislis Wehmut für seinen Geburtsort reiste der russische Journalist nach Nachitschewan, um die Region selbst in Augenschein zu nehmen. Burtin berichtete kürzlich „Hyperallergic“ von seinem Besuch in Agulis im Jahre 2013, dass er „keine Spuren der glorreichen Vergangenheit“ der Region gesehen hätte. Burtin sagte ohne Umschweife, um zu beschreiben, was er gesehen (oder vielmehr nicht gesehen) hatte: „Nicht einmal der IS hätte solch ein gründliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen können.“

 

Verschiedene Auslegungen

Auswärtige Beobachter haben die Ausradierung des christlich-armenischen Erbes von Nachitschewan durch das Aliyev-Regime lediglich als rachsüchtige Hinterlassenschaft des blutigen Karabach-Kriegs interpretiert. Armenische Wissenschaftler und aserbaidschanische Dissidenten haben jedoch zusätzlich diverse eigene Theorien.

Der armenische Forscher Samvel Karapetyan, dessen sorgfältige Dokumentation von abgelegenen mittelalterlichen armenischen Denkmälern in Berg-Karabach als „konstruktiver Ultra-Nationalismus“ bezeichnet wurde, sieht die Zerstörung der armenischen Denkmäler durch Aserbaidschan als einen Versuch an, um die „historischen Rechte“ bzw. die aus der Vergangenheit abgeleitete politische Legitimität der Armenier zu neutralisieren. Andere armenische Wissenschaftler fassen die anti-armenischen Zerstörungen durch Aserbaidschan als Teil einer größeren Agenda an, um die Vision des Pantürkismus in die Tat umzusetzen: Ein ethnisch homogenes türkisches Gemeinwesen - bestehend aus der Türkei, Aserbaidschan und ihren ethnolinguistischen Brüdern in ganz Eurasien. Nach den Worten des verstorbenen armenischen Historikers Edward Danielyan „sind [Aserbaidschans] ungeheuerliche Verbrechen [gegen mittelalterliche armenische Denkmäler] kein Zusammenprall von Zivilisationen oder Kulturen, sondern die Fortsetzung des Völkermordes [von 1915 -1923], die aus der anti-armenischen Leitlinie des Pantürkismus resultiert.“

Die Ziehung von Parallelen zwischen der Vernichtung in Aserbaidschan und der Zerstörung des materiellen Erbes während des Völkermordes an den Armeniern in der Türkei ist nicht ganz unbegründet. Die Zahl der aktiven armenischen Kirchen und Klöster im Osmanischen Reich betrug vor dem Ersten Weltkrieg nach Angaben des armenischen Patriarchats von Konstantinopel 2.538 bzw. 451. Seitdem wurden beinahe alle zerstört bzw. einer anderen Nutzung zugeführt. Wie die französischen Journalisten Laure Marchand und Guillaume Perrier in „Turkey and the Armenian Ghost“ sagen: „Da das religiöse Erbe der Armenier der stärkste Ausdruck der Wurzeln ihrer Vorfahren war, wurde es zur primären Zielscheibe für ihre Unterdrücker.“ In absoluten Zahlen gesehen, stellt die Ausradierung des armenischen Kulturerbes durch die Türkei den jüngsten Vandalismus in Nachitschewan in den Schatten. Dennoch überlebten einige armenische Ruinen - und einige renovierte Kirchen - bis heute in den westlichen Regionen des historischen Armeniens, was heute die östliche Türkei ist. Im Gegensatz dazu hat Aserbaidschan keinen armenischen Stein in Nachitschewan auf dem anderen gelassen.

Im Gegensatz zu den armenischen Wissenschaftlern sehen die aserbaidschanischen Dissidenten die Zerstörung des armenischen Erbes von Nachitschewan als einen Teil des internen Durchgreifens gegen alle Formen der Opposition gegen die herrschende Elite an. Diese Repressionen schienen sich nach der Einweihung der lukrativen Ölpipeline Baku-Tbilisi-Ceyhan im Mai 2005 zu verstärken. Vasif Talibov erließ das Dekret Nr. 5-03/S, den faktischen Befehl zur Ausradierung der letzten Reste des armenischen Nachitschewans, genau einige Monate nach der Eröffnung der Pipeline nach Europa. Talibovs Gefolgsleute attackierten aber nicht nur die Chatschkare. Sie schlossen auch die meisten der zahlreichen privat betriebenen Teehäuser der Region, die traditionellen Zentren des aserbaidschanischen Soziallebens, in denen die Diskussion über Politik genauso selbstverständlich war, wie der Genuss heißen Tees. Zeitgleich weihte Talibov Moscheen und Statuen zu Ehren des Patriarchen der herrschenden Dynastie, Heydar Aliyev, ein. Nach Aussage des in den Niederlanden ansässigen unabhängigen aserbaidschanischen Historikers und prominenten Menschenrechtlers Arif Yunus, der zuvor in Aserbaidschan mit dem Vorwurf des „Landesverrats“ inhaftiert worden war, die laut Amnesty International frei erfunden ist, ist die anti-armenische Haltung des aserbaidschanischen Präsidenten ein aufgeblähter Hurrapatriotismus, mit dem Ziel, das eigene Regime zu konsolidieren. „Nachdem Ilham Aliyev seinen Vater als Präsidenten abgelöst hatte“, berichtete uns Yunus, „erhob er die Armenophobie auf die gleiche Stufe wie den Antisemitismus im nationalsozialistischen Deutschland.“ Die endgültige Beseitigung der mittelalterlichen armenischen Denkmäler in Nachitschewan war laut Yunus von Aliyev ersonnen worden, um sich als Patriot zu empfehlen, während Vasif Talibov sich freudestrahlend fügte, um an der Macht zu bleiben.

Während einige Aserbaidschaner den Vandalismus ihrer Regierung entweder als gerechte Vergeltung oder als eine Maßnahme der nationalen Sicherheit gegenüber möglichen armenischen Gebietsforderungen begrüßen, betrauerten andere Aserbaidschaner - neben dem humanistisch eingestellten Autor Akram Aylisli - die Zerstörung. Laut einem aserbaidschanischen Historiker, der um Anonymität bat, ist der Großteil der heute fast eine halbe Million zählenden Bevölkerung Nachitschewans, von der nahezu alle Muslime sind, über das kürzliche Verschwinden des christlichen Erbes der Region von großer Trauer erfüllt. Dies schließt auch Lehrer ein, die Ihre Schüler zu Exkursionen zu diesen Orten mitnehmen. Dennoch „ziehen sie die stille Wut einer Gefängnisstrafe vor“. Der Sachbuchaufsatz von “Farewell, Aylis“ aus dem Jahre 2018 stellt sogar die These auf, dass eine vor fünf Jahren an der Stätte einer zerstörten Kirche errichtete Moschee von den Einheimischen boykottiert wurde, da „jeder in Aylis weiß, dass Gebete in einer an der Stätte einer Kirche errichteten Moschee die Ohren Allahs nicht erreichen.“

 

Multikulturalisten, keine Vandalen

Präsident Aliyev hat scharfe Kritiker unter den aserbaidschanischen Intellektuellen und der weltweiten Community der Menschenrechtler, aber auch leidenschaftliche Befürworter im Ausland. Tatsächlich fördert die kontrovers geführte Diplomatie des Aliyev-Regimes Aserbaidschan als ein „Land der Toleranz“. 2012 bezeichnete die Europäische Stabilitätsinitiative die großzügigen Spenden Aserbaidschans für Lobbyaktivitäten und die Versuche, ausländische Verbündete zu werben, als „Kaviardiplomatie“. Diese mit Erdöldollars finanzierte Kampagne führte zu diversen Spenden, darunter Zuwendungen zum Erhalt von Kulturgütern in ungenannter Höhe an den Vatikan. Bakus Talent, Freundschaften zu knüpfen, führte zu mehreren bemerkenswerten Ergebnissen, einschließlich einer Kolumne in „Time Magazine“, in der Aserbaidschan als „eine Oase der Toleranz“ beschrieben wurde und von Lobpreisungen für die „vorbildliche interreligiöse Harmonie“ in Aserbaidschan in mehreren gesetzgebenden Organen der USA, sowie mehrerer Medaillen, die von den Führern Frankreichs, der russisch-orthodoxen Kirche und sogar von der UNESCO - jener internationalen Organisation, die mit dem Schutz des Weltkulturerbes betraut ist - der Vizepräsidentin Aserbaidschans, der Ehefrau Aliyevs, verliehen wurden. Es ist vorgesehen, dass das Welterbe-Komitee der Letzteren sich im Juni 2019 in Baku zusammentrifft, wo die symbolische Renovierung einer umfunktionierten armenischen Kirche aus dem 19. Jahrhundert (deren Alter „beweist“, dass die Geschichte der Armenier innerhalb Aserbaidschans nur einige wenige Jahrhunderte umfasst) durch Präsident Aliyev eine unbedingt sehenswerte Attraktion der „Toleranz“ ist.

Die Empfehlungen der UNESCO für Aserbaidschan waren besonders rätselhaft. Im Jahre 2013 spendete Aserbaidschan - gleich nach der Einstellung der Finanzierung an die UNESCO durch Washington - 5 Millionen US-Dollar an die finanziell geschwächte Organisation. Bald darauf folgte die Lobpreisung für den „Multikulturalismus“ und die „Toleranz“ in Aserbaidschan. Selbst vor den Spenden aus Aserbaidschan ignorierten die Führer der UNESCO die Zerstörungen in Nachitschewan weitgehend - trotz der Dokumentationen, die von der Parlamentariergruppe Schweiz-Armenien und der Gesellschaft zur Erforschung der armenischen Architektur zur Verfügung gestellt wurden. Überdies trat der Generaldirektor der UNESCO, Kōichirō Matsuura, nach seiner Pensionierung im Jahre 2009 als Treuhänder der staatlich geführten „Baku International Multiculturalism Centre“ bei, während seine Nachfolgerin Irina Bokova den „Weltforum zum interkulturellen Dialog“ des Präsidenten Aliyev Baku besuchte. Für die Anschuldigungen für kriminelle Handlungen fehlen indes konkrete Beweise, womöglich mit Ausnahme eines Berichts von „The Guardian“ vom 4. September 2017 mit der Überschrift „Großbritannien im Zentrum eines geheimen aserbaidschanischen Plans für Geldwäsche und Lobbyismus in Höhe von 3 Milliarden US-Dollar“. Dieser investigative Artikel von Luke Harding, Caelainn Barr und Dina Nagapetyans führte fragwürdige Zahlungen an den Ehemann von Irina Bokova auf. Ob ethisch oder nicht, der UNESCO-Bericht über Aserbaidschan trug zweifellos dem internationalen Schweigen über die Zerstörung der armenischen Vergangenheit von Nachitschewan bei. Die UNESCO-Charmeoffensive Bakus, argumentiert der Aliyev-Kritiker Arif Yunus, begünstigt auch den Gehorsam im Inland: „Nichts überragt die Macht der Aliyev-Diktatur auf aserbaidschanische Dissidenten als ein kultureller Völkermord in Nachitschewan, die dann auf internationaler Ebene mit Lob auf Toleranz überschüttet wird.“

 

Streben nach Gerechtigkeit

Da Aserbaidschan wegen der Beseitigung des armenischen Kulturerbes in Nachitschewan nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnte, haben die Armenier und ihre Verbündeten  überlegt, wie man Gerechtigkeit herbeiführen könnte. Im Jahre 2010 konnte Armenien einen zwischenstaatlichen UNESCO-Ausschuss davon überzeugen, die „Symbolik und Handwerkskunst der Chatschkare“ zum Teil des von der UNO anerkannten immateriellen Kulturerbes zu erklären. Ein posthumes, dennoch stillschweigendes Tribut an Dschulfa.

 

Ein Original-Chatschkar aus Dschulfa, einer von etwa einem Dutzend Überlebenden, die während oder vor der Sowjet-Ära entfernt wurden, gezeigt auf der Ausstellung „Armenia!“ vom 22. September 2018 bis 13. Januar 2019 im Metropolitan Museum of Art. Leihgabe des Heiligen Stuhles von St. Etschmiadsin. (© Simon Maghakyan, mit freundlicher Genehmigung von Djulfa Virtual Memorial and Museum  I  Djulfa.com)

 

Mehrere Nachbildungen der Chatschkare von Dschulfa wurden überall in der Welt aufgestellt, unter anderem vor dem Hauptquartier des Europarats im französischen Straßburg und vor dem Kapitol des US-Bundesstaats Colorado in Denver. Das frühere „Projekt zur digitalen Rückkehr des Friedhofs von Dschulfa“ der Australian Catholic University, ein Konzept von Judith Crispin, wollte mit Hilfe von 3D-Abbildungstechniken Dschulfa virtuell wiederherstellen. Das Projekt wurde zum Teil ins Leben gerufen, um „denjenigen, die das Welterbe zerstören, zu zeigen, dass ihre Bemühungen vergebens sind“, erklärt Harold Short, Spezialist für digitale Geisteswissenschaften. Dennoch stoßen die Restaurierung der verloren gegangenen armenischen Denkmäler in Nachitschewan oder alternative Maßnahmen zur Rechenschaft auf keine einhellige Zustimmung. „Die ultimative Hoffnung für die Wiedererrichtung vor Ort ist die Versöhnung“, sagt Brian Daniels, Direktor des Cultural Heritage Center der University of Pennsylvania. Daniels, der vor dem US-Kongress über Fragen zur kulturellen Zerstörung ausgesagt hat, bemerkt, dass die Bemühungen der Experten zur Konservierung mit zumindest noch so kleinen materiellen Überresten beginnen müssen. Selbst diese Forderungen zu erfüllen, würde „in Aserbaidschan ein außerordentliches Problem“ darstellen.

Heute ist es dem Forscher Argam Ayvazyan - wie auch all denjenigen mit armenischer Ethnizität und Hintergrund - von der aserbaidschanischen Regierung untersagt, sein heimatliches Nachitschewan aufzusuchen. Traurig über den Verlust der Monumente, die er Jahrzehnte lang so liebevoll dokumentiert hat, prangert er das Schweigen der Weltöffentlichkeit an. „Die Vernichtung der armenischen Vergangenheit von Nachitschewan durch das ölreiche Aserbaidschan ist noch schlimmer als die Taten des IS. Trotzdem haben die UNESCO und die meisten westlichen Staaten weggeschaut.“ Die Stätten von Palmyra, die vom IS zerstört wurden, können wiederaufgebaut werden, sagt Ayvazyan, aber „alles was von den armenischen Kirchen und Kreuzsteinen in Nachitschewan übrig geblieben ist, die Erdbeben, Kalifen, Timur und Stalin überstanden haben, sind meine Fotos.“

 

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Arman Simonian

Original: https://hyperallergic.com/482353/a-regime-conceals-its-erasure-of-indigenous-armenian-culture/?fbclid=IwAR0mbITJ62fB3XuKPwbRxPGk77wq0STLVtAJtoNUbsvUA6QWEPbOTHzu_xs%D5%BE

 

[1] Войны памяти: мифы, идентичность и политика в Закавказье. М.: ИКЦ Академкнига, 2003. 592 стр.

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